Scheint sich in den fotografischen Essays von Knut Giebel die Zeit zu verdichten, als würde sie förmlich stillstehen, verhält es sich in seinen Bildern von Menschen beinahe umgekehrt. Dessen ungeachtet hebt die Phalanx der Menschenbilder, Einzelbilder und Bildersequenzen gleichermaßen, mit dem farbigen Bildnis einer Frau an, die ausruht. Für einen Augenblick verharrt sie. Sie stützt sich mit der rechten Hand auf einer Spüle ab und schaut ins Ungefähre. Dahin, wo das Licht ins Bild fällt.
Die formale Anlage des Bildnisses zeugt dennoch von einer untergründigen Spannung im Bild. In dieser Spannung verkörpert sich der fotografische Augenblick als unermesslich. Als etwas, das so rasch vergeht, wie es aufkommt (und bisweilen eine gefühlte Ewigkeit andauert). Die Frau im fortgeschrittenen Alter, ihr volles graues Haar am Hinterkopf zusammengebunden, mit ausdrucksvollem Gesicht, leicht geöffnetem Mund und wachen Augen, füllt die ganze rechte Bildfläche aus. Sie hat vieles gesehen. Ihr Gesicht spricht davon. Den Kopf hat die Kamera im Profil erfasst. Der Körper, in einen weißen Kittel gehüllt, darüber eine dunkelblaue Jacke, ist den Betrachtern zugekehrt. Kopf und Körper drehen sich voneinander weg. Das Gesicht der Frau setzt sich scharf vom Bildfond ab. Ihre rechte Körperhälfte verschwindet dagegen im Schatten.
Die linke Hälfte des Bildes, von sparsamer Beleuchtung nur teilweise erhellt, bestreiten simple Alltagsgegenstände. Eine Spüle, ein geraffter Vorhang darüber, gemustert mit länglichen Rechtecken in Ocker und Lichtblau. Das einfallende Licht trifft auf die Wasserhähne der Spüle und wird blitzartig zurückgeworfen.
Das Ocker des Vorhangs korrespondiert mit dem Gelb der Halsschleife des Pullovers oder einer Bluse unter dem weißen Kittel der Frau. Die Korrespondenz gibt dem Bild einen formalen Halt. In der Fotografie begegnen sich die beiden Seiten menschlicher Existenz, die subjektive und die soziale, das Gefühl, selbst zu sein, eine Nanosekunde lang, und die gesellschaftliche Rolle, das „in-der-Welt-sein“ und dennoch, „gefühlt“, kein Teil von ihr, der unaufhebbare Zwiespalt menschlichen Daseins.
Ohne die Farbkorrespondenz von Ocker und Gelb würde das Bild formal in zwei Teile zerbrechen. Die Möglichkeit, dass gerade dies geschehen könnte, impft das Bild mit dem für Giebels Werke typischen Fluidum des Transitorischen. Das momentane Atemholen der Frau und das Dämmerlicht bestärken es. Dieses eigentümliche Schweben fixiert jenes nicht wahrnehmbare Nanomoment zwischen Jetzt und Vorbei. Ihm verdankt das Bildnis seine Spannung.
Knut Giebel tritt regelrecht beiseite. So mischt er sich bei Eröffnungen von Kunstausstellungen einfach unter die Menge der Besucher. Er fotografiert aus deren Blickwinkel, und die Blicke der Fotografierten auf dem Weg zu den Kameras der Berufsfotografen gleiten an seiner Kamera vorbei. Der Effekt ist, wenn man ihn wie Giebel kenntnisreich umzusetzen versteht, verblüffend. Darum überrascht es nicht, dass er von dem grandiosen und scheuen Künstler Sigmar Polke ein außerordentlich signifikantes Bildnis realisiert hat. Polke inmitten der Menge, die er um eine halbe Haupteslänge überragt. Nur für Kenner von ihr unterscheidbar, mit seiner ständigen Begleiterin, einer Kamera, und wie er die Situation aufmerksam beobachtet.
Die Kunst des Beiseite-Tretens
Die Kamera in der Hand des Künstlers erblickt man erst beim zweiten Hinsehen. Sie ist nahezu ganz verdeckt vom Profil des Gesichtes einer Frau im Vordergrund. Deren rechtes Auge verschmilzt beinahe mit der Kamera und wendet sich scheinbar in die Bildfläche. Eines der prägnantesten Bildnisse, das mir von Polke geläufig ist, den ich sehr gut gekannt habe. Eines, das über ihn Aufschlussreicheres mitteilt als die gestellten Porträts, die er nicht mochte. In Giebels Version des Posenporträts sieht man, wie Polke vor vieren seiner grafischen Werke die fotografisch erwünschte Künstlerpose mit seiner Mimik feinsinnig hintertreibt. Seine Kamera fungiert dabei als Schutzschild.
Sehr geehrter Herr Giebel,
vielen Dank für Ihren freundlichen Brief und natürlich für Ihr sehr schönes Buch über Fotografische Realitäten…!
Ihr neues Projekt klingt sehr interessant, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie die Rückversetzung in die Fotografie gehen könnte. Und Einwände gegen Ihr Projekt hätte ich nur, wenn Sie dabei Motive aus meinem Privatbereich verwenden wollen, wie z.B. „Ema, Akt auf einer Treppe“ u.a.
Aber sicherlich werden Sie mich vor einer Veröffentlichung darüber informieren.
Mit freundlichen Grüßen
Gerhard Richter
Knut Volkmar Giebel verwirklicht seine Porträts im journalistischen Verfahren, in wenigen Augenblicken, häufig bei stark frequentierten Ereignissen, mit offenem Blitz, aber stets mit ausdrücklicher Einwilligung der Porträtierten, er ist kein fotografischer Jäger, der sich auf die Lauer legt, weder einer, der sich wie Henri Cartier-Bresson solange in Geduld übt, bis sich die Konstellationen der Gegebenheiten so schürzen, dass sie den fixierten Zeitmoment förmlich über den Bildrand schießen lassen, noch einer, der wie die berüchtigten Paparazzi Fotografen aus Indiskretion und Penetranz ihr ästhetisches Kapital schlagen.
Mehr als ein Jahr nach Lichtensteins Tod sah ich sein Porträt aus Giebels Hand zum ersten Mal, und schon beim flüchtigen Betrachten schoss mir jäh der Gedanke durch den Kopf, dass sich darin schon das baldige Ende seines Lebensweges abzeichnete. Sieht er nicht auf eine bewegende Art schon wie ein völlig durchgeistigtes Wesen aus, bereits zwischen den Sphären, noch diesseits, aber von jener Aura umgeben, die in Walter Benjamins Worten „nah und fern“ zugleich ist?
Es wäre unter den skizzierten Voraussetzungen ungerechtfertigt, zu behaupten, dass Knut Giebel die Größen der zeitgenössischen Kunst vor seiner Kamera versammelt hätte. Von ein paar Ausnahmen wie Emil Schumacher oder Georg Baselitz abgesehen. Er hat sie vielmehr fotografiert und manchmal im scheinbaren En passant symptomatische Indizien ihres Selbstverständnisses festgehalten. Richter und Polke, Hockney und Allan Jones. Außerdem die Garde der amerikanischen Pop Art, Lichtenstein und Rosenquist samt den Vorläufern Jasper Johns und Robert Rauschenberg und einem Nachfolger wie Jeff Koons. Dazu einen Brückenbauer zur Conceptual Art wie Ed Ruscha. Oder die zahlreichen Künstlerinnen, Cindy Sherman, Jenny Holzer, Marie Jo Lafontaine und Pipilotti Rist. Koons strahlt uns Betrachter an und hebt die linke Hand zum „hy“, Otto Piene kämpft mit seiner künstlerischen Materie. Jörg Immendorff wirkt nachdenklich. Und seine Hand stellt ein Echo der Geste einer Frau links im Hintergrund des Bildes dar. Rosenquist posiert in visueller Konkurrenz mit seinem Porträt von Joan Crawford nach einer Starpostkarte. Die überspringende Freude von Antoni Tàpies reißt mit.
Die Unauffälligkeit von Bernd und Hilla Becher besticht, das visionäre Gesicht von Michael Ballhaus, der bald darauf erblinden sollte, berührt. Es ist das untrügliche Gespür für signifikante Einzelheiten, das Knut Giebels Bildnisse auszeichnet. Sie erschließen sich nicht auf den ersten, flüchtigen Blick. Aufmerksamkeit wird verlangt, genaues Sehen. Was im Grunde Zeugnisse zufälliger, andererseits aber auch gezielt angestrebter Begegnungen sind, büßt die Spontaneität, die der Zufall hervorruft, durch die fotografische Fixierung nicht ein. Das ist zugleich das visuelle Produkt einer auf langer Erfahrung basierender und künstlerisch inspirierter, professioneller Beobachtungsgabe. Eine Fotografie, die komplexer ist, als sie ausschaut.
Exemplarisch führt er seine ästhetische Haltung in der Sequenz von Bildern Yoko Onos vor.
Rauschenberg, Köln
Rauschenberg, Zürich